Die Philosophie führt uns zur moralischen Vollkommenheit
Wieso sollen wir uns der Philosophie zuwenden? Es ist ja so, dass uns die freien Künste großartige Fertigkeiten und beeindruckende Möglichkeiten lehren. Geometrie, Grammatik oder musikalische Komposition – sie alle verlangen nach Meisterschaft im Denken. Doch was können sie uns in Bezug auf moralische Vollkommenheit beibringen? Nichts. Einzig die Philosophie vermag uns hierüber Auskunft zu geben. Deshalb ist die Philosophie die wichtigste der freien Künste. Alle anderen sind lediglich Vorübungen zu ihr. Architektonische Meisterleistungen oder technologischer Fortschritt sind Leistungen menschlichen Scharfsinns und Ergebnisse unseres Überdrusses an der Natur – in unserer Suche nach Weisheit haben sie uns jedoch nicht geholfen. Dass wir leben, ist ein Geschenk der Götter. Richtig leben zu lernen, ist jedoch ein Geschenk der Philosophie. Daher ist die Philosophie höher zu achten als das Leben. Dieses ist uns durch die Geburt gegeben. Ein moralisch vollkommenes Leben müssen wir uns dagegen hart erarbeiten.
„Wie es einen großen Unterschied gibt zwischen Habsucht und Geld, weil jene begehrt, dieses begehrt wird, so auch zwischen Philosophie und Weisheit. Diese nämlich ist das Ergebnis und ihre Belohnung; jene ist unterwegs, diese ist das Ziel der Reise.“ (S. 396)
Schon Sokrates verlangte, dass wir zuerst uns selbst erkennen, bevor wir die Natur und die Welt erforschen. Daher fordern wir von der Philosophie nicht modische, aber sinnleere Wortklaubereien, sondern wohlüberlegte und klare Wegweisungen zu einer Moral, die uns in unserer Lebenspraxis etwas nützt. Philosophie soll nicht unterhalten, sondern Unglücklichen und Leidenden mit Rat zur Seite stehen und sie heilen. Wenn etwa die platonische Schule über das „Sein des Seienden“ fabuliert, so ist das für uns letztlich nichts als Unterhaltung. Zwar eine gute, weil sie uns belehrt und nicht verblödet, aber für unsere Lebensführung völlig wertlos. Philosophie darf nicht zum bloßen Nachbeten von Zitaten einzelner Autoritäten werden, sondern sollte ein Handeln ermöglichen, das aus sich selbst heraus richtig und nicht von Vorbildern abhängig ist. Für den Stoiker ist Philosophie vor allem Moralphilosophie. Sie soll uns helfen, ein Leben im Angesicht des allzeit drohenden Todes zu führen, und sie soll uns Wege zur moralischen Vollkommenheit aufzeigen.
„Wir müssen uns eher auf den Tod als auf das Leben vorbereiten.“ (S. 204)
Nach Reichtum, Erfolgund Schönheit zu streben, ist sinnlos
Viele Menschen verbringen ihre Zeit damit, Geld, Ansehen oder Luxusgüter anzuhäufen oder hektisch durch die Welt zu reisen. Doch das sind letztlich bloß verschiedene Wege, um den Geist zu beunruhigen und ihn haltlos zu machen – die schlimmste Krankheit, die unser Gemüt befallen kann. Reisen hält uns im Bann stets neuer und unbekannter Orte. Doch wirklich durchdringen können wir sie gar nicht, weil wir bereits weiterhetzen. Auch unsere eigenen Probleme bekommen wir so nicht in den Blick, wenn wir ständig uns selbst davonlaufen. Eine ruhige und kontinuierliche Lebensführung dagegen erlaubt uns, uns selbst zu erforschen und zu erziehen. Das Streben nach Gütern und Luxus ist sinnlos. Denn weder Erfolg noch Reichtum, weder Schönheit noch Stärke halten der Vergänglichkeit und der Zeit stand. Wir erhalten sie aufgrund äußerlicher Zufälle und verlieren sie ebenso. Außerdem ist Gott selbst weder schön noch reich. Wenn wir also wie Gott werden, brauchen wir uns gar nicht um Äußerlichkeiten bemühen. Im Leben gibt es nur einen einzigen festen Wert: Vertrauen zu sich selbst. Wir erreichen es durch einen ausgeglichenen Lebenswandel und die Erziehung unseres Geistes, denn der Geist ist das göttliche Element in unserem menschlichen Körper.
„Nichts möchte ich Dir daher lieber empfehlen als (…) alles nach den natürlichen Bedürfnissen zu messen, deren Befriedigung kostenlos ist oder billig (…)“ (S. 619)
Weder Gott noch die Natur verlangen von uns mühevolle Arbeit und das Anhäufen von Reichtum. Für all unsere Bedürfnisse hat die Natur gesorgt: Wenn wir Durst empfinden, brauchen wir nur Wasser zu trinken, und er vergeht. Dass wir darüber hinaus edle Getränke aus goldenen Bechern trinken, ist reiner Luxus und überflüssig. Wir sollten der Natur gemäß leben und auchunser Hab und Gut auf das Maß der Natur beschränken. Denn alles Streben nach Reichtum, äußerlichem Erfolg oder Schönheit ist eine sichere Quelledes Unglücks. Diese Dinge machen nie zufrieden, sondern fordern immer mehr Geld, Erfolg oder Schönheit. Ehrgeiz und Genusssucht sind Lebensweisen, die zwar vielen Menschen als Lebenszweckerscheinen. Sie versprechen Befriedigung und Ruhe, doch in Wirklichkeit sind es Genüsse, die uns nach der Sättigung hungrig und unbefriedigt zurücklassen – wie ein Getränk, das unseren Durst nicht stillt, sondern uns mit jedem Schluck durstiger werden lässt. So bleibt der Reiche trotz seines Geldes durstig nach mehr Geld – und er bleibt unglücklich. Der Reiche hat seinen Reichtum nicht. Vielmehr hat der Reichtum ihn: Er hat vom Reichen Besitz ergriffen, wie ein bösartiges Fieber den Kranken befällt und im Griff hält.
Moralische Vollkommenheit ist das höchste Gut
Viele Philosophen behaupten, es gebe eine Hierarchie der Güter. Sie behaupten etwa, Freude sei ein höheres Gut als tapfer ertragene Folter oder Krankheit. Doch für uns Stoiker sind alle diese Güter gleichwertigund einem einzigen höchsten Gut untergeordnet. Der moralisch Vollkommene wird ebenso moralisch vollkommen sein, wenn er Freude empfindet, wie wenn er Folter erleidet. Moralische Vollkommenheit ist nicht steigerbar, sie kann nicht erweitert oder verringert werden. Sie ist von äußeren Umständen unabhängig. Ob ein Mensch reich oder arm ist, krank und hässlich oder schön und gesund, ändert nichts an seiner moralischen Vollkommenheit bzw. Mangelhaftigkeit. Natürlich suchen wir Menschen Freude und meiden Schmerz. Doch Freude oder Leiden sind wie Folter oder Reichtum rein körperliche Güter, die vom Zufall abhängen. Sie können vermehrt oder vermindert werden und sind deshalb Scheingüter gegenüber der unbedingten und vollkommenen Moralität.
„Jeder, der sich Zufälligem hingibt, schafft sich einen gewaltigen und unentwirrbaren Stoff für Beunruhigung: Der einzige Weg für einen, der auf sicheren Boden gelangen will, ist der, Äußerliches zu verachten und mit dem sittlich Vollkommenen zufrieden zu sein.“ (S. 272)
Affekte, Begierden und Leidenschaften sind körperlich, wir empfinden sie in unserem Gemüt, in unserem Magen und in unserem Herzen. Liebe und Hass, Freude und Trauer beeinflussen unsere Körperhaltung und Mimik, unsere Muskelspannung und Verhaltensmuster. Da sie uns antreiben und in uns wirken, sind sie körperlich. Tugenden wie Laster sind gleichermaßen körperlich: Weisheit und moralische Vollkommenheit ebenso wie Habsucht und Grausamkeit. Alle Emotionen haben einen natürlichen Ursprung in unserem Körper, sie dienen der Lust und der Selbsterhaltung. Doch sie haben einen problematischen Hang zur Maßlosigkeit und dazu, reiner Selbstzweck zu werden. Daher müssen wir unsere Begierden und Leidenschaften zügeln. Der Weise strebt maximale Selbstkontrolle an: Ob Liebe zu oder Angst vor einem anderen Menschen – er hütet sich vor beiden und versucht, sie gleichermaßen auf Distanz zu halten. Nun meinen die meisten, zu solch einer Leistung seien sie gar nicht fähig. Hinter dieser Behauptung steckt aber, dass sie ihre Laster lieben und insgeheim an ihnen festhalten wollen. Hätten diese Menschen genug Selbstvertrauen und guten Willen, würde ihnen die Verbannung ihrer Laster gelingen.
Edle Vorbilder und Anspruchslosigkeit sind Wegweiser für richtiges Handeln
Mit Blick auf das richtige Handeln ist die Absichtwichtig, nicht das Ergebnis. Wie für den Künstler das Malen wertvoller ist als das Gemälde, so ist auch für den Weisen das moralische Tun wertvoller als dessen Konsequenz. Er wird eine moralisch gute Handlung trotz aller Mühen, Gefahren oder Nachteile vollziehen, eine moralisch schlechte Handlung aber weder für Ruhm, Geld oder Macht. Wir sollten stets so denken und handeln, als ob uns ein strenger Aufpasser oder ein weiser Berater über die Schulter sieht und uns beurteilt. Denn Böses denken und tun wir Menschen immer dann, wenn wir uns unbeobachtet, allein und sicher fühlen. Am besten wählt man sich ein edles Vorbild wie Cato, Scipio oder Epikurund macht sich regelmäßig bewusst, dass sie einen beobachten. Ihre Anwesenheit wird einen nicht nur von Bösem abhalten, sondern auch nach und nach zu einem edlen und weisen Menschen machen. Ihr Vorbild weist den Weg zur moralischen Vollkommenheit.
Ein anderer Weg dorthin ist Anspruchslosigkeit: das Wissen um die Vergänglichkeit aller äußerlichen Güter, das uns zum Rückzug auf die Naturnotwendigkeiten veranlasst. Das Stillen von Hunger und Durst oder der Schutz vorKälte ist immer möglich und durch leichte Mittel zu erzielen. Anspruchslosigkeit ist der eigentliche Reichtum. Damit ist übrigens keineswegs gemeint, dass wir stillos oder schäbig herumlaufen, dass wir arm oder hässlich werden sollen. Doch wir sollten die Pflege unseres Körpers auf das Nötigste reduzieren; die Pflege unseres Geistes ist viel wichtiger. Mehrere Tage pro Monat sollte man fasten, auf allen Luxus verzichten und nur von Wasser und billigstem Brot leben. Dadurch lernt man, auf Reichtum zu verzichten und Armut nicht als Bedrohung zu sehen.
„Ich bin größer und zu Größerem geschaffen, als Sklave meines Körpers zu sein, den ich jedenfalls nicht anders anschaue als irgendeine Fessel, die meiner Freiheit angelegt ist. (…) Verachtung des eigenen Körpers bedeutet sichere Freiheit.“ (S. 218)
Demut schützt den Philosophen vor Gewalt
Wir sind unseren eigenen Schwächen gegenüber blind und müssen sie mühsam abschütteln, um Schritt für Schritt Moralität zu erlernen. Demut ist daher das wichtigste Ziel des Weisen. Außerdem muss er sich drei Hauptübeln gegenüber bewähren: Krankheit, Armut und Gewalt. Die letzte Gefahr, etwa von Mächtigen oder einem wütenden Mob angegriffen zu werden, ist am dringlichsten. Daher sollte der Weise unter allen Umständen Aufsehen vermeiden. Außerdem darf er weder Hass, Missgunst noch Verachtung der anderen auf sich ziehen. Dazu gelangt man durch die Philosophie. Jeder, der sie unaufgeregt und insgeheim ausübt, wird seinen Mitmenschen als heilig gelten und daher vor ihren gewalttätigen Übergriffen sicher sein.
Wahre Freude kommt aus unserem Inneren
Bei jeder Arbeit, jeder Mühe müssen wir prüfen, ob sie wirklich unumgänglich ist – oder ob wir sie frei gewählt haben. Viele beklagen die Mühen ihres Karriereweges und die Risiken ihrer Geldgeschäfte oder sorgen sich um ihre Beziehungen. Doch sie alle leiden an selbst gewählten Hoffnungen und Idealen. Um frei und glücklich zu werden, müssten diese Menschen einfach nur ihre selbst gewählte Knechtschaft aufgeben. Sich von äußeren Umständen, von der Meinung anderer oder vom Zufall abhängig zu machen, bringt niemandem Glück. Stoiker sind keineswegs Feinde der Freude. Ganz im Gegenteil: Sie streben danach, jeden Tag so viel Freude zu empfinden wie möglich. Es soll jedoch wahre Freude sein, die aus dem Inneren kommt und nachhaltig und dauerhaft wirkt – nicht die oberflächliche Belustigung der breiten Masse. Dauerhafte Freude entstammt einem guten Gewissen, einem ruhigen und gleichmäßigen Lebenswandel und dem richtigen Handeln. Alle Genüsse sollten in Maßen genossen werden, denn Übermaß schadet anderen und uns selbst. Zunächst überflüssige Luxusgüter werden durch Gewöhnung plötzlich unentbehrlich und machen uns abhängig. Wahre Freude besteht einzig in der Erhebung der Seele durch innere Güter und Wahrheiten. Was wir im Alltag oft als Freude bezeichnen – etwa Liebe oder Weingenuss – ist nicht eigentliches Glück, weil es einerseits nicht dauerhaft ist und andererseits schnell zur Quelle von Unglück werden kann.
Der Weise lebt für sich und fürchtet den Tod nicht
Die Essenz von Weisheit ist die Übereinstimmung von Wort und Tat: Unsere Handlungen sollten unserer Rede entsprechen. Unser Leben sollte auf festen Überzeugungen beruhen, dann stimmen wirjederzeit mit uns selbst überein. Der Weise ist zunächst einer, der es versteht zu leben – und zwar für sich zu leben. Er hat sich frei gemacht von Ängsten, Illusionen und Abhängigkeiten. Denn die Quelle unseres Unglücks sind kaum reale Verluste, sondern unsere Angst vor einem möglichen Verlust. Der Weise stirbt so, wie er geboren wurde: frei von allen eingebildeten Sorgen. Gut sterben heißtgern sterben. Nichts geschieht dem Weisen gegen seinen Willen, denn er arrangiert sich mit allem, was ihm zustößt, und akzeptiert es als notwendig.
Was uns Menschen von den Tieren unterscheidet, ist die Vernunft. Sie ist unsere Bestimmung und unsere Natur, unabhängig davon, ob wir Sklave oder Kaiser sind. Sie zur Vollkommenheit auszubauen und damit unserer Natur gemäß zu leben, ist der Sinn des Lebens. Freilich sind die tatsächlich Weisen äußerst selten. Wie der Phönix werden sie nur alle 500 Jahre geboren. Dennoch weisen sie uns die Richtung. Denn nur Weisheit kann uns wahre und dauerhafte Freude bescheren.
Das Ende der römischen Republik
Im letzten vorchristlichen Jahrhundert vollzog sich eine wesentliche Veränderung des römischen Reichs hinsichtlich der Staatsform: Aus der jahrhundertealten Republik wurde nach politischen Turbulenzen und Bürgerkriegen ein Kaiserreich, das vor allem in seiner Entstehungsphase vorwiegend von Despoten geführt wurde. 60 v.Chr. bildete sich das sogenannte erste Triumvirat aus Gaius Iulius Caesar, Gnaeus Pompeius Magnus und Marcus Licinius Crassus – drei erfolgreichen Heerführern und eiskalten Machtpolitikern, die sich verbündeten, um den römischen Senat schrittweise zu entmachten. Eine Zeit politischer Instabilität begann. Den zahllosen Intrigen und brutalen Machtkämpfen fielen nacheinander alle Triumvirn zum Opfer. Nach der Ermordung Caesars 44 v.Chr. bildeten Octavian, Marcus Antoniusund Marcus Lepidus ein zweites Triumvirat, dem es ähnlich erging. Der einzige Unterschied war, dass Octavian das allgemeine Gemetzel überlebte: 27 v.Chr. begann mit seiner Ausrufung zum Prinzeps eine neue, monarchische Herrschaftsform. Octavian trug fortan den Ehrennamen Augustus.
In dieser Phase des Umbruchs versuchten die römischen Philosophen und Literaten, sich stärker in die Politik einzubringen – allerdings stets zu ihrem Nachteil. Cato und Cicero, zwei Verteidiger der Republik, fielen dem römischen Bürgerkrieg zum Opfer. Ovid wurdeaus Rom verbannt und starb in Tomis am Schwarzen Meer.
Entstehung
Ausseiner Verbannung nach Korsika, wo Seneca den Briefwechsel als literarische Form und die Stoa als philosophische Schule für sich entdeckte, wurde er 54 n.Chr. durch Agrippina, die Gattin des KaisersClaudius, nach Rom zurückgeholt und zum Lehrer und Mentor ihres Sohnes Nero gemacht. Als Claudius starb, leitete Seneca gemeinsam mit dem Prätorianerpräfekten Sextus Afranius Burrusfür eine Weile die Regierungsgeschäfte für den minderjährigen Thronfolger. Doch als Nero 59 n.Chr. seine Mutter ermordete und immer stärker dem Größenwahn verfiel, wurde klar, dass Seneca allen mäßigenden Einfluss auf den jungen Kaiser verloren hatte. Auch wenn Nero die beiden Pensionierungsgesuche Senecas in den Jahren 62 und 64 n. Chr. ablehnte, zog sich Seneca weitgehend aus den Geschehnissen am Hof zurück. Er verbrachte seine Zeit in Rom oder auf seinen Landgütern und begann, sein philosophisches Werk zu schreiben. Dass er beim paranoiden Herrscher in Ungnade gefallen war und dass Nero über Leichen ging, war Seneca klar. Dass seine philosophische Ethik in der Praxis kolossal gescheitert war, schmerzte ihn.
Die Briefe an Lucilius entstanden zwischen Dezember 62 und Herbst 64 n. Chr., also kurz vor Senecas Tod. Parallel dazu arbeitete er an seinenNaturwissenschaftlichen Untersuchungen. In seinem Briefwechsel mit Gaius Lucilius ging es hingegen ganz um die sinnvolle Einrichtung des Lebens, um die Suche nach dem wahren Glück und die Erlangung moralischer Vollkommenheit durch Unabhängigkeit von äußeren Umständen, materiellen Gütern oder der Meinung der Öffentlichkeit. Senecas Briefpartner war – wie Seneca selbst – Mitglied des Ritterstands und Prokurator der Provinz Sizilien. Die beiden Männer waren bereits jahrelang befreundet, und da Lucilius etwa zehn Jahre jünger war, nahm ihr Briefwechsel den Charakter einer Lehrer-Schüler-Unterweisung an.
Wirkungsgeschichte
Bereits kurz nach seinem Tod galt Seneca als einer der wichtigsten Schriftsteller der römischen Kultur – stilistisch wie philosophisch. Gegen Ende des römischen Reichs wurde er insbesondere von den frühen christlichen Autoren wie Tertullian oder Lactantiuswohlwollend rezipiert. An dieser Nähe zwischen Christentum und Stoizismus sollte sich in der weiteren Geistesgeschichte nicht mehr viel ändern. Die Briefe an Lucilius sind einer der wichtigsten erhaltenen Texte der Stoa und eines der wenigen Werke der lateinischen Literatur, die nicht erst in der Renaissance wiederentdeckt wurden, sondern auch nach dem Zerfall des römischen Reichs bekannt blieben. Diese Konstanz in der Wirkungsgeschichte machte die Briefe Senecas neben jenen Ciceros zum Grundstock der aufkommenden Bibliotheken und Universitäten Europas und zu einer bedeutenden Alternative zur kirchlich-monastischen Ethik.
Lange Zeit wurden die Briefe an Lucilius nicht als Einheit, sondern in zwei oder sogar drei unabhängigen Sammlungen tradiert. Die ältesten erhaltenen Manuskripte datieren aus dem neunten Jahrhundert, erst ab dem zwölften Jahrhundert wurden alle Briefe als Einheit erfasst und 1475 erstmals abgedruckt. Erasmus von Rotterdam veröffentlichte sie 1529 erneut, Michel de Montaigne nahm sie als Vorbild für seine berühmten Essais und Justus Lipsius adaptierte sie in seinem Neostoizismus. Bis zu den Aufklärern DenisDiderot, Jean-JacquesRousseau und EdwardGibbon reichte Senecas Einfluss, danach verblasste seine Wirkmacht im europäischen Denken. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es in Philosophie und Literaturwissenschaftjedoch zu einer Wiederentdeckung Senecas.